Letteritis (Erkrankung der Leselust) mit zwei ganz einfachen Buchtipps
Ich will es nicht verleugnen, seit meiner frühen Jugend leide ich an einer mittelschweren Form der Hypochondrie. Das bringt es mit sich, dass ich schon eine Menge Krankheiten nicht gehabt habe, mich mit ihren Symptomen aber bestens auskenne.
Ein bewährtes Mittel dieser „Störung“ zu begegnen und sich erfolgreich abzulenken, war und ist bei mir das Lesen. Der Volksmund würde mich eine Leseratte nennen. Ich selbst neige eher zu der Bezeichnung Bücherwurm. Aber auch den Begriff „Leseratte“ benutze ich in der letzten Zeit gerne. Besonders nachdem ich „Ein Weihnachtsgeschenk für Walter“ von Barbara Wersba gelesen habe. Denn Walter ist eine echte Leseratte. Er lebt bei einer älteren Dame, Miss Pomeroy, die Kinderbücher schreibt und eine herrliche Bibliothek besitzt. Und ausgerechnet in ihren Büchern ist eine Maus der Held. Das kann Walter nicht auf sich sitzen lassen. Ein wunderbares Buch über die Liebe zur Literatur. Eine Lesung zu Weihnachten im Speicher würde sich geradezu anbieten.
Büchernarr wäre ebenfalls eine treffende Umschreibung meines innigen Verhältnisses zu den bedruckten und gebündelten Seiten. Gutenberg und seinen Lettern sei Dank, sind der massenweisen Verbreitung des gedruckten Wortes, inzwischen unter Zuhilfenahme diverser neuerer Techniken, fast keine Grenzen mehr gesetzt. Wenn unsere nachwachsenden Holzvorräte und die Altpapiersammelstellen, die es seit einiger Zeit wieder gibt, nicht schlapp machen, dann wird es das gedruckte Buch hoffentlich noch sehr lange geben.
Erst gar nicht will ich an dieser Stelle von den Neuheiten der elektronischen Buchstaben-Anreihung und ihrer auf matt glänzenden Bildschirmen zusammengefassten Präsentation reden. Was früher der „Kodex“ genannte Urkörper unserer geliebten Bücher war, ist heute eine schmale, langweilig in Metall oder Plaste gepresste Datendatei, die auf den neuzeitlichen, mit Technik verwöhnten Erdenbürger wie ein Buch wirken soll, das aber das süße Rascheln von Blättern, den muffigen Duft großstädtischer Antiquariate oder ein sorgsam gefaltetes Eselsohr vermissen lässt.
In Kodex Veritas kann der passionierte Bücherfreund leider nicht behaupten, denn auch im E- Book steckt der Geist des geschriebenen Wortes, nur eben nicht so schön verpackt.
Ob nun im Jahrhunderte alten und bewährten Leinen, Kunst- oder Ledereinband, im Softcover, ob gebunden, geklebt, mit Draht oder Fadenheftung versehen oder als Ringbuch, ob im schön gekämmten oder gebürsteten und polierten besagtem „Metalleinband“ oder bunt in PVC, an einem Mangel kranken heute zu viele Bücher. An der Ignoranz; an der Ignoranz ihrer Leser. Besser gesagt ihrer Nichtleser. Und die sind von einer gefährlichen, heilbaren, aber heimtückischen Krankheit infiziert. Als alter Hypochonder weiß ich, wovon ich schreibe. Denn als Hypochonder der ich bin, habe ich vor der sogenannten Letteritis panische Angst. Zumal sie sich, langsam aber stetig breit macht, Stadt für Stadt, Schule für Schule und Haus für Haus erobert. Sie schleicht sich in Beamtenstuben genauso wie in Kleingartenanlagen oder Feierabendheime. Herden ihrer Viren sollen sich in Computerspielkabinetten, Schülerfreizeitzentren und auf den Schreibtischen unserer Schülergeneration herumtreiben, selbst Lehrertische sind nicht mehr sicher.
Ihre Symptome und Auswirkungen sind leider nicht, wie bei anderen allergischen Erkrankungen, sofort auszumachen. Da, wo der Patient bei Berührung mit den die Allergie verursachenden Stoffen sofort mit unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden reagiert, ist es bei der Letteritis eher umgedreht. Gerade die Nichtberührung mit den gefährlichen Stoffen (Bücher) verursacht die langanhaltenden Spätfolgen mit all ihren Komplikationen. Ihr Krankheitsverlauf erfolgt schleichend und kann sich wie eine Borreliose über viele Monate und Jahre hinwegziehen. Unbemerkt breiten sich die Erreger aus und der Patient bemerkt es zumeist als Letzter.
Parallel dazu werden die Patienten von etlichen Nebenerkrankungen befallen. Diese sind vielen von uns bekannten Suchterkrankungen nicht unähnlich. Um der Haupterkrankung nicht zum Opfer zu fallen, lenkt der Patient sich instinktiv mit Fernsehen, Videos und Videospielen, mit der Liebe zu Tamagotchis oder zu plärrenden Ersatzmenschenpuppen und pinkelnden Zotteltieren ab. In ganz schlimmen Fällen taucht er in regelrechet virtuelle Ersatzwelten ab, um nur nicht mit dem Haupt-erreger (Bücher) in Berührung kommen.
Der Leser kann sich sicherlich meine panische Angst vor dieser Krankheit vorstellen. (Wenn sie das hier Lesen, sind sie Keimfrei- hoffentlich.) Was soll nur aus meinen vielen Büchern werden, wenn ich mich infiziere? Schleichend werde ich unter Umständen nicht einmal merken, dass ich nicht mehr lese und die vielen Bücher mit Ignoranz strafe. Anstelle in einer Buchhandlung werde ich in Zukunft womöglich in einem Chatroom alt werden oder beim versorgen meiner Facebook-Farm vergessen, wie ich an den heimischen Kühlschrank komme.
Aber es besteht Hoffnung! In einem Eugen Roth Gesundheitsbuch habe ich folgendes Rezept gefunden und ich werde alle Gefahren einfach aussitzen.
Geduld! Laß ab von aller Letter! / Es wird sich ändern, wie das Wetter:/ Schon morgen, unverhofft genesen, Kannst Du dann lesen, lesen, lesen!
Letteritis
Ganz plötzlich wird es Dir bewußt:
Erkrankt ist Deine Leselust!
Nach welchem Buche Du auch faßt,
Keins, das zu Deiner Stimmung paßt!
Du gibst nichts hin - es gibt nichts her:
Bald ists zu leicht, bald ists zu schwer.
Mit leerem Herzen und Verstand
Starrst Du auf Deine Bücherwand:
Die altbewährte, edle Klassik
Ist Dir auf einmal viel zu massig,
Und über die moderne Lyrik
Denkst Du schon beinah ehrenrührig.
Der Reißer selbst, in dessen Flut
Du sonst gestürzt voll Lesewut,
Wirft heut Dich an sein Ufer, flach;
Dein Drang zur Wissenschaft ist schwach;
Und das gar, was sich nennt Humor,
Kommt Dir gequält und albern vor.
Geduld! Laß ab von aller Letter!
Es wird sich ändern, wie das Wetter:
Schon morgen, unverhofft genesen,
Kannst Du dann lesen, lesen, lesen!
Aus Eugen Roths gesammelte Werke. Das ist jener, der diesen wunderbaren Spruch prägte.
Ein Mensch erblickt das Licht der Welt –
Doch oft hat sich herausgestellt
Nach manchem trüb verbrachten Jahr,
Dass dies der einzige Lichtblick war.
Michael Schmal